“Die Diskussion um regionale Flughafensysteme ist berechtigt” – Beitrag von Ulrich Stockmann

Braucht Deutschland weitere Flughafensysteme? Ja, sagt Verkehrspolitiker Ulrich Stockmann in einem Gastbeitrag auf airliners.de. Mögliche Infrastruktur-Erweiterungen werden aus Platz- und Akzeptanzgründen immer schwieriger. Zudem sind Flughafensysteme in Krisen resillient.

Gerne beteilige ich mich an der im Zuge von Corona aufgeflammten Diskussion um regionale Flughafensysteme. Wann sonst als in einer Krise stellen sich Zukunftsfragen? Wenn ich im Folgenden etwas apodiktisch einige Grundsatzargumente formuliere, dann hoffe ich, dadurch auch einen Fortgang der Diskussion zu provozieren.


Aus den bisher gelesenen Argumenten höre ich zwei scheinbar konträre Anliegen heraus:

1. Um die Überlebensfähigkeit kleiner Flughäfen/-plätze des dezentralen Luftverkehrs zu stärken, sollte über mögliche Zusammenschlüsse nachgedacht werden. Und

2. Flughafensysteme im dezentralen Luftverkehr könnten die jeweils schwächeren Flughäfen in ihrer Interessenwahrnehmung mindern.

Ich stimme beiden konträren Positionen zu, denn für demokratische Politik gilt der konservative Grundsatz: “Wer etwas verändern will, hat die Beweislast zu tragen”. Der Mehrwert eines Flughafensystems gegenüber dem Bestehenden sollte nicht nur ökonomisch und ökologisch, sondern auch unter Gesichtspunkten der Raumordnung, des Flughafen-gesamtsystems und der Krisen-Resilienz dargestellt werden (keine kleine Hürde).

Ein zweiter Grundsatz besagt: politische Entscheidungen sollten fehlerfreundlich sein. Das heißt zum Beispiel, Entscheidungen über die Konversion einer Infrastruktur, die nicht mehr rückgängig gemacht oder ersetzt werden kann, ist heute grob fahrlässig.

Da ich schon einmal bei Grundsätzlichem bin, noch eine Überlegung: Die Handlungsfähigkeit eines demokratischen Staates (egal wie die Zuständigkeiten für den Normalfall aufgeteilt sind, hängt in globalen Krisensituationen letztinstanzlich von drei Faktoren ab:

a)     dem Funktionieren der Entscheidungsfindung und -umsetzung durch die demokratischen Institutionen

b)     dem Zugang zu den öffentlichen Medien und

c)      der Unversehrtheit der Transportmöglichkeit von notwendigen Personen, Waren und Dienstleistungen.

Jedes dieser Handlungsmedien darf nicht eindimensional, das heißt alternativlos sein. Das gilt auch für die Ersetzbarkeit von Transportwegen.

Flughäfen brauchen wenig Infrastruktur und sind daher resilient

Unter den Verkehrsträgern ist in Krisensituationen der Luftverkehr der resilienteste, weil er die geringste Infrastruktur im Vergleich zu allen Landverkehrsträgern benötigt. Man muss nicht gleich an Krieg oder Erdbeben denken, die in unseren Breiten zum Glück sehr unwahrscheinlich sind. Aber schon bei Berichten von Überschwemmungen und Waldbränden auch als Folge des Klimawandels, sieht man vorrangig Hubschrauber und Flugzeuge im Einsatz.

Ein letzter Grundsatz: Für den dezentralen Luftverkehr hat das Gesamtnetz einen kleinen Wertigkeitsvorsprung vor dem einzelnen Flughafen/-platz, weil die Handlungsfähigkeit des Staates voraussetzt, dass notwendige Personen, Güter und Dienstleistungen auf kürzestem und schnellsten Weg von jeder Region in jede andere transportiert werden können.

Der dezentrale Luftverkehr hat nebenbei auch den Vorteil gegenüber den Großflughäfen, dass er bei Pandemien oder Terroranschlägen weniger gefährdet ist. Ich glaube, jetzt hab ich endgültig einen Disput vom Zaun gebrochen. Angebot: Wir können gerne mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe mögliche Krisenszenarien durchdiskutieren.

Zurück zum Ausgangsthema Flughafensysteme. Diese sind bei der Europäischen Kommission in Ungnade gefallen, weil man offensichtlich keinen ausgeprägten Sinn für eine funktionale Systemarchitektur des Luftverkehrs hatte, sondern auch kleine Flughäfen ausschließlich nach betriebswirtschaftlichen Kriterien bewertet sehen wollte und deshalb Flughafensysteme einer möglichen Quersubventionierung geziehen wurden.

Was könnte ich mir als sinnvoll vorstellen? Im Folgenden behandle ich Flughafensysteme (mit Management aus einer Hand) und arbeitsteilige Kooperationen von Flughäfen aus funktionalen Überlegungen als gleichwertig.

Viele Hauptstädte haben Flughafensysteme

Meine verkehrspolitische Argumentation zu Flughafensystemen in der Bundeshauptstadt und in Metropolregionen stellt sich für mich wie folgt dar. Aus verkehrspolitischer Sicht brauchen Metropolen Flughafensysteme. Und viele Hauptstädte haben auch welche. Das gilt nicht nur für London, Paris und Rom, sondern selbst für kleine Staaten mit Hauptstädten wie Kopenhagen, Helsinki oder Budapest.

Das Hauptargument für Flughafensysteme bezieht sich auf einen dynamisch wachsenden Kapazitätsbedarf. Gegen den Megatrend Urbanisierung ist kein Kraut gewachsen und auch der Mobilitätsbedarf wächst kontinuierlich deutlich schneller als das Wirtschaftswachstum. Das hängt mit unseren komplexer werdenden Gesellschaften zusammen und dem zweiten Megatrend: Globalisierung. Auf der anderen Seite werden mögliche Infrastruktur-Erweiterungen aus Platz- und Akzeptanzgründen immer schwieriger.

In der derzeitigen Corona-Pandemie vergisst die Politik das Kapazitätsproblem leicht aus verständlicher Fokussierung auf aktuelles Geschehen. Aber es kommt nach dem Ende der Beschränkungen zunächst mit deutlich reduzierten Passagierzahlen, aber deutlich gestiegenen Platzbedarf zurück.

Ein weiterer Grund ist der innerstädtische Zubringerverkehr, der bei mehreren Flughafen-standorten sich verteilt und leichter zu organisieren ist.

Ein wenig thematisierter Vorteil eines Flughafensystems ist die enorme Einsparung von Treibhausgasemissionen. Jede Airline muss bei jedem Flug über so viel Treibstoff verfügen, dass bei einem Ausfall des Zielflughafens der nächste Flughafen bequem und sicher angesteuert werden kann. Flughafensysteme bieten bei Havarien Ausweichmöglichkeiten. Die simple Rechnung lautet: kürzere Reservestrecke = weniger Kerosin = weniger Gewicht = weniger Emissionen.

Häufig wird der Bedarfsluftverkehr bei der Systemarchitektur des Luftverkehrs in Metropolen wenig beachtet, obwohl er insgesamt rund 70 Prozent der Flugbewegungen realisiert. Er ist in vielen seiner Bereiche auch für Metropolen unabdingbar. Bei einem Flughafensystem sind gewisse “Arbeitsteilungen” untereinander denkbar. Das gilt freilich nicht nur für die strenge Definition von Flughafensystemen mit Flughafenmanagement aus einer Hand, sondern auch von unabhängigen Flugplätzen, die kooperieren.

Die Dauerkrisen unserer Zeitenwende zur postindustriellen Moderne (wie sie der Soziologe Reckwitz diagnostiziert) brauchen resiliente Infrastrukturen. Das gilt auch für die Verkehrssysteme und nicht zuletzt für die Luftfahrt. Flughafensysteme sind resilient, weil sie anpassungsfähiger an die unterschiedlichen Erfordernisse von Krisen sind und im Notfall sich untereinander “vertreten” können. All diese Möglichkeiten bietet der eine Hauptstadt-flughafen nicht und kann auch der BER allein nicht leisten.

Es bedarf einer gewissen Arbeitsteilung

Aus Gründen der Systemarchitektur des dezentralen Luftverkehrsnetzes und seiner Bedeutung als “Basis-Resilienz” des Gesamtverkehrssystems sollte sein Status meines Erachtens als im “Bundesinteresse” liegend, anerkannt werden. Solange die ausschließliche Zuständigkeit der Bundesländer besteht, sind Flughafen-Konzepte der Länder mit einer Aufwertung des Systemgedankens durch eine gewisse Arbeitsteilung vorstellbar. Auch eine, wie von Herrn Mehdorn für den BER angedachte Kooperation mit den umliegenden Regionalflughäfen, hätte einen Mehrwert generieren können.

Meine Wunschvorstellung eines Konzeptes für dezentrale Flughafensysteme hängt mit meiner Überzeugung zusammen, dass die Transformation des Luftverkehrs in einen nachhaltigen, aus technischen Gründen zuerst im dezentralen Luftverkehr gelingt und zu einer Renaissance der Regionalverkehre führen könnte. Bei dem angedachten Model eines ÖPSV – Metrosystems (siehe Artikelserie) könnten mehrere involvierte Flughäfen sich untereinander und mit mittelständischen Unternehmen zu Betreibergesellschaften zusammen schließen. Das ergäbe für alle Beteiligten einen Mehrwert.